R. Argast: Staatsbürgerschaft und Nation

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Titel
Staatsbürgerschaft und Nation. Ausschliessungs- und Integrationsprozesse in der Schweiz 1848-1928


Autor(en)
Argast, Regula
Reihe
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 174
Erschienen
Göttingen 2006: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
379 S.
Preis
€ 44,90
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von
Christian Geulen, Institut für Geschichte, Universität Koblenz-Landau

Unter Bürgerrecht versteht man üblicherweise die Summe der Rechte des Einzelnen in einem politischen Gemeinwesen. Erst wenn man vom Staatsbürgerrecht spricht, wird auch die Frage relevant, wer eigentlich Anrecht auf diese Rechte haben soll. In der Schweiz ist das ein bisschen anders. Wenn hier – wie etwa seit den 1990er-Jahren in immer neuen Anläufen – das Bürgerrecht debattiert wird, dann stehen nicht so sehr individuelle Freiheits- und Partizipationsrechte im Vordergrund. Auf diese können die Schweizer vielmehr in einer sehr viel länger zurückreichenden Kontinuität als etwa die Deutschen vertrauen – und seit 1971 auch die Schweizerinnen. Nein, wenn hier das Bürgerrecht thematisiert wird, dann geht es um das, was andernorts Staatsangehörigkeitsrecht heißt; es geht um die Frage, wer das Recht hat, die bürgerlichen Rechte, Pflichten und Freiheiten wahrzunehmen, wer also volles Mitglied des politischen Gemeinwesens sein soll – und wer nicht.

Bei der Gründung des Bundesstaats 1848 wurde dieses Recht zum ersten Mal formuliert und eben hier entschied man sich bewusst dafür, von Bürgerrecht und nicht von Staatsangehörigkeit zu reden, ein Begriff, der damals zu sehr an das preußische Untertanen-Modell erinnerte. Entsprechend verstand man unter Bürgerrecht tendenziell auch mehr als in Deutschland unter Staatsangehörigkeit, nämlich nicht nur formale Zugehörigkeit, sondern – wenn auch in verschiedenen Phasen der Geschichte unterschiedlich stark betont – ebenso die bürgerlichen Rechte und Pflichten, die mit der Partizipation am übergreifenden Gemeinwesen einhergehen. Zugleich aber wurde die formale – aber grundlegende – Frage, wer überhaupt das Recht haben soll, diese staatsbürgerlichen Rechte in Anspruch zu nehmen, 1848 vom gerade erst gegründeten Bundesstaat weg und in die Kantone und Gemeinden verlagert. Mit anderen Worten: Die bürgerlichen Rechte wurden nationalisiert, die Frage der Zugehörigkeit föderalisiert.

In groben Zügen ist das die Ausgangsposition der überzeugenden Studie von Regula Argast über "Staatsbürgerschaft und Nation: Ausschließung und Integration in der Schweiz 1848-1933." Sie zeichnet sich vor allem dadurch aus, das Problem der Staatsbürgerschaft (dies der Bürgerrechte und Staatsangehörigkeit übergreifende, an 'citizenship' angelehnte Name des Gesamtphänomens) nicht nur in seinen rechtlichen und politisch-theoretischen Dimensionen zu entfalten, sondern am Beispiel der Schweiz als "Faktor und Produkt" konkreter Formen des herrschaftlichen Handelns und der bürgerlichen Partizipation selbst deutlich zu machen. Große Teile der Forschung zu diesem Problemfeld tendieren dazu, die verschiedenen Modelle und Regelungen der Staatsbürgerschaft, die die Geschichte hervorgebracht hat, komparativ zu analysieren, um dann nach dem richtigen oder angemessenen Modell zu fragen. Argast dagegen konzentriert auf den Prozess der historischen Herausbildung und Veränderung von Staatsbürgerschaft und macht damit die geschichtliche Tiefendimension eines Phänomens deutlich, das politisch fast immer auf der Ebene von Prinzipien diskutiert wird.

So sieht Argast im Schweizer Fall aus jener ambivalenten Regelung von 1848 eine "doppelte Deutung" des dreistufig gegliederten Bürgerrechts (Gemeinde, Kanton, Bundesstaat) erwachsen: Auf der Gemeindeebene und eng verknüpft mit der sehr viel älteren Tradition des schweizerischen Armenrechts hielt sich ein frühmodernes, deutlich republikanisches Verständnis politischer Herrschaft als patriarchale und souveräne Lenkung überschaubarer Gemeinschaften durch sich selbst, während auf Kantons- und Bundesstaatsebene ein von Argast mit Foucault "gouvernemental" genannter Liberalismus vorherrschte, der sich an der regierenden Steuerung der Bevölkerung durch die Gewährung von Freiheiten und Freiräumen der Selbstentfaltung orientierte. Dadurch wurde die Frage des Bürgerrechts langfristig zu einem Objekt des ständigen Aushandelns nicht nur zwischen der kommunalen und der nationalen Ebene, sondern ebenso zwischen zwei verschiedenen Auffassungen politischer Herrschaft – was zur langen Geschichte des kommunalen Widerstands gegen bundesstaatliche Initiativen der Modernisierung des Bürgerrechts führte. So ist etwa die Einführung einer modernen am Prinzip des 'ius soli' orientierten Staatsbürgerschaftsregelung an eben diesem Konflikt immer wieder gescheitert oder wurde verwässert.

Einer von vielen Schritten in dieser Entwicklung, die Argast genau rekonstruiert, war die Verfassungsrevision von 1903, in welcher der Bundesstaat in klassisch gouvernementaler Manier versuchte, die Kohäsion des schweizerischen Staatsvolks durch die verstärkte Einbürgerung im Land lebender Ausländer zu erhöhen, indem er den Kantonen und Gemeinden die Einführung des 'ius soli' freistellte. Diese aber machten so gut wie keinen Gebrach davon und der Bundessaat hatte ein wesentliches Instrument der zentralisierten Regelung von Zugehörigkeit gleichsam umsonst aus der Hand gegeben. Hinzu kam, dass die intendierte Erleichterung der Integration zugleich mit einer – ebenfalls typisch gouvernementalen – Prüfung der individuellen Eignung einhergehen sollte, was in den folgenden, von Überfremdungsängsten geprägten Jahrzehnten auf Gemeinde- und Kantonsebene faktisch zu radikalisierten Ausschlusspraktiken führte. Noch wichtiger für diese Entwicklung aber war der Erste Weltkrieg, mit dem ein Abschied von der zumindest bundesstaatlich bis dahin liberal orientierten Integrationspolitik einherging und einen deutlichen Anstieg kulturprotektionistischer, fremdenfeindlicher und nationalistischer Positionen nach sich zog. Exklusion, Assimilationsdruck und das verbreitete Selbstverständnis, ein ganz besonderes Volk und vor allem: kein Einwanderungsland zu sein, herrschten jetzt vor. Zu einer breitenwirksamen Biologisierung und Rassisierung des nationalen Selbstverständnisses ist es aber – laut Argast aufgrund der ethnisch-kulturellen Heterogenität der Schweiz – nicht gekommen.

Auch wenn die hier implizierte These, dass biologistische Umdeutungen der Nation ein Mindestmaß an vorgängiger Homogenität voraussetzen, problematisch erscheint, leuchtet Argasts Befund ein, dass im Falle der Schweiz die Verwebung der nationalen Diskurse mit den gegebenen Strukturen und Traditionen der Multikulturalität und des Föderalismus zu stark war, als dass sich Ideologeme wie die eines 'homo helveticus' langfristig hätten durchsetzen können. Zumindest auf die Bürgerrechtsdebatten hatten sie zwar einen radikalisierenden, aber keinen strukturell transformierenden Einfluss. Offener bleibt demgegenüber die Frage nach der Funktion der in allen Phasen wie selbstverständlich aufrecht erhaltenen Exklusion der Frauen von zentralen politischen Bürgerrechten. Argast setzt auch hier anfänglich auf Foucaults Konzept der Gouvernementalität als einer Form des Regierens nicht von Untertanen, sondern einer lebendigen, arbeitenden und sich reproduzierenden Bevölkerung. Dies scheint aber eine deutliche Integration auch und sogar gerade der Frauen nötig zu machen, deren prinzipieller Ausschluss aber in der Schweiz so wenig hinterfragt wurde, dass Argast hier eine deutliche Grenze der Erklärungskraft des Foucaultschen Konzepts sieht.

Eine alternative These wird hier leider nicht formuliert. Zwar analysiert Argast die Motive und Ursachen der strukturellen Exklusion von Frauen, fragt aber selten umgekehrt nach der funktionalen Rolle dieser Exklusion in der Entwicklungsgeschichte des Bürgerrechts. Dabei sind die systematische Dezentralisierung der Bürgerrechtspolitik einerseits und der außergewöhnlich lange Ausschluss der Frauen von der politischen Partizipation andererseits eben die Momente, durch die sich der Schweizer Fall von anderen abhebt. Hier drängt sich die Frage auf, ob die basale Binnenexklusion entlang der Geschlechtergrenzen möglicherweise entscheidend dazu beitrug, das Problem der Staatsangehörigkeit gouvernemental einem multiplen und prinzipiell offenen Verhandlungsraum überantworten zu können, ohne damit die Einheit des Staatsvolks wirklich aufs Spiel zu setzen.

Dies sind aber nur Spekulationen, zu denen Argast durch die Vielschichtigkeit ihrer Argumentation in fruchtbarer Weise einlädt. Überhaupt besticht das Buch durch die so riskante wie sorgfältige Verschränkung einer erstaunlichen Vielzahl unterschiedlichster Perspektiven. Nach einer fundierten theoretischen Einführung in die Staatsbürgerschaftproblematik, einer Darstellung der wesentlichen Kontinuitätslinien in der Schweizer Entwicklung und einem Kapitel, das die Frage nach der Nation und nationalen Vorstellungswelten als ergänzende und zugleich quer zur Rechts- und Institutionengeschichte liegende Untersuchungsachse einführt, folgen die drei Hauptkapitel, in denen Argast chronologisch und zugleich systematisch die Entwicklung des Schweizer Bürgerrechts rekonstruiert, von 1848 (im Falle des Kantons- und Gemeindebürgerrechts von 1833) bis 1933. Die grundlegend erneuerte Bundesverfassung von 1874 und der Erste Weltkrieg bilden dabei die entscheidenden Zäsuren. Konkret entwickelt Argast ihre Thesen an einem dichten und kohärenten Quellenkorpus, den sie unter anderem in den drei so unterschiedlichen wie repräsentativen Kantonen bzw. Gemeinden von Zürich, Basel und Einsiedeln gesammelt hat. Die Analyse einzelner Fälle von Einbürgerungsanträgen macht die verschiedenen Ebenen deutlich und zugleich plausibel, auf denen Argast ihre Argumente entwickelt. Dabei gelingt ihr insbesondere die analytische Abwägung zwischen Faktoren, die bis in die Entstehungsphase des Bürgerrechts zurückreichen und solchen, die erst ab 1914/18 zu einer "nachträglichen Ethnisierung" und anderen Formen der Verhärtung des im Prinzip liberalen Bürgerrechts beitrugen. Zugleich bleibt der Gegenwartsbezug fast immer präsent, was die historische Aufklärungsleistung der Studie unterstreicht.

Auch die Einbeziehung von Theoretikern wie Foucault, Habermas und vielen mehr, überzeugt gerade dadurch, dass sie nicht dogmatisch erfolgt. Nur an manchen Stellen wird dem Leser das Abwägen und vorsichtige Ausloten eines "Mittelwegs" zwischen Forschungspositionen oder einer alle Aspekte berücksichtigenden Darstellung etwas zuviel, besonders wenn dabei – wie bei Qualifikationsarbeiten nicht selten – die klare Thesenbildung sprachlich wie argumentativ hinter dem Bemühen um Vorsicht und Umsicht zu verschwinden droht. Insgesamt aber hat Argast eine überzeugende analytische Gesamtuntersuchung des Schweizer Bürgerrechts bis 1933 vorgelegt, die ihr Thema nicht nur systematisch entfaltet, sondern weitgehend historisiert. In eben diesem Blick auf die konkrete geschichtliche Entwicklung wird am Ende verstehbar, warum man sich die Schweiz bis heute mit einer modernen Einbürgerungspolitik schwer tut, und zugleich werden implizit die vergangenen und aktuellen Alternativen deutlich. Weit über den Schweizer Fall hinaus zeigt die Studie aber auch und vor allem, dass Staatsbürgerschaft eben nicht nur eine Frage liberaler Freiheiten und Partizipationschancen ist, sondern bis heute – Globalisierung hin oder her – fundamental mit jenem Recht zusammenhängt, das schon Hannah Arendt als eine zentrale politische Herausforderung des 20. Jahrhundert ansah: das Recht, Rechte zu haben.

Redaktion
Veröffentlicht am
16.06.2008
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